„Wenn nicht jetzt, wann dann?“ von EUD-Generalsekretär Christian Moos

Dieser Sommer hatte es in sich. Ein schwaches Fünf-Präsidenten-Papier, keine nennenswerten Initiativen für mehr Europa aus den Mitgliedstaaten, schwierige Verhandlungen um die abermalige Rettung Griechenlands, seinen Verbleib in der Eurozone, der ungelöste Konflikt mit Russland, der nahöstliche Krisenbogen und die dramatisch zugespitzte Flüchtlingskrise, der „Exodus“, wie The Economist jüngst titelte, das Aussetzen von Schengen, Streit und wieder Streit. Es steht aktuell nicht gut um Europa. Dennoch war es lange nicht so gegenwärtig, selten so notwendig wie heute.

Ja, all diese Krisen gefährden Europa in einem Maß, das über alles bisher Dagewesene hinausreicht. Aber so unterschiedlich sie sein mögen, sie haben ausnahmslos eines gemeinsam: Sie wären samt und sonders besser beherrschbar oder sogar vermeidbar gewesen, wenn die Europäer sich rechtzeitig auf mehr Zusammenarbeit verständigt hätten.

Das betrifft die unterlassene Hilfeleistung im Kampf der nicht-islamistischen Rebellen gegen ihre Tyrannen, den Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Islamischen Staat, das Fehlen einer wirklichen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und einer Nachbarschaftspolitik, die über Schön-Wetter-Veranstaltungen hinausgeht. Das gilt für eine in gemeinsamer Verantwortung getragene europäische Asyl- und Einwanderungspolitik, die das Recht auf Asyl ebenso schützt wie die europäischen Außengrenzen, und eine Einwanderungspolitik, die Migration zielgerichtet und entsprechend der Bedarfe in den Mitgliedstaaten regelt. Das gilt auch und nicht zuletzt für eine echte Wirtschafts- und Währungsunion, die sowohl die Wirtschaft als auch den sozialen Zusammenhalt in Europa in eine verantwortliche Gesamtschau nimmt.

Vom Versagen der Europäischen Union ist dieser Tage viel die Rede. Was für ein Irrtum! Es sind Regierende und Regierungen, die keine gute Figur abgeben, nicht die Gemeinschaftsinstitutionen. Letztere können nur die Instrumente nutzen, die ihnen die Verträge zur Verfügung stellen. Neuerungen können allein die Herren der Verträge bewirken, die Staats- und Regierungschefs, die nationalen Parlamente. Auch das zeigt, dass Europa krisenfest nur werden kann, wenn die Gemeinschaftspolitik mehr Gewicht bekommt.

Politikversagen auf allen Ebenen? Nicht ganz. Eine zentrale Rolle spielt auch Europas Zivilgesellschaft. Und auf diese kommt es jetzt an. Die überparteiliche Europa-Union als deutsche Sektion der Europäischen Föderalisten ist Teil der proeuropäischen bürgerschaftlichen Kräfte. Gerade in Deutschland, aber nicht nur dort, zeigt eine engagierte Bürgerschaft dieser Tage, dass es Hoffnung auf ein weltoffenes, humanes, ein solidarisches Europa gibt.

Auch wenn tragende Säulen der europäischen Integration ins Wanken kommen – die Reisefreiheit ist in großer Gefahr – bleibt eine europäische Zivilgesellschaft, die nicht zu geschlossenen Grenzen oder gar zu Mauern und Stacheldrahtzäunen zurückkehren will. Besonders wir Deutschen nicht. Also dürfen wir den Kopf nicht in den Sand stecken. Wir müssen gerade jetzt rausgehen auf die Straßen und Plätze und den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen.

Was sollten sonst befreundete Föderalisten sagen, die sich mehr denn je für die europäische Idee einsetzen, die jedoch nolens volens zu einer Oppositionsgruppe werden, nicht weil sie sich politisierten, sondern weil ihre Regierung sich in großen Schritten und unter flagranter Verletzung europäischen und internationalen Rechts von Europa und seinen Werten entfernt.

Wenn die Dinge im Großen ins Rutschen kommen, sind Engagement und Zusammenhalt der europäischen Zivilgesellschaft wichtiger denn je. Das gilt auch und vor allem für das Zusammenstehen mit denjenigen, die sich durch ihr demokratisches Engagement in Gefahr bringen. Die überparteiliche, aber nicht unpolitische Europa-Union und die Europäische Bewegung, die in der Gemeinschaft mehr sehen als einen wirtschaftlichen Zweckverbund, sind in dieser schweren Stunde gefordert.

Gedachten wir nicht soeben noch des Ersten Weltkriegs, der Zerstörung des alten Europa vor 100 Jahren? Der italienische Politiker Antonio Salandra appellierte 1914 an den „sacro egoismo“, den „geheiligten Egoismus“ seiner Landsleute. Soll das der Weg sein, den wir Europäer 2015 einschlagen? Sind wir Europäer denn so notorisch dumm?

Europa steht an einer Wegscheide, wieder mal, diesmal jedoch womöglich an einer entscheidenden. Sind sich alle Akteure dessen bewusst? Wie bereits mit „Europa Mitbestimmen“ und unserem „Gedankengang“ können wir einen aktiven Beitrag leisten zum Bewusstwerden. „Europas Wegscheide“ sollte in diesem Herbst, der nicht zum Herbst der Europäischen Union werden darf, möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern vor Augen geführt werden. Dazu laden wir alle unsere Ehrenamtlichen ein.

Wir sind nicht nur Staffage für Europa-Gedenktage und Wohlfühlveranstaltungen. Wir sind die Avantgarde der erfolgreichsten Friedensbewegung des 20. Jahrhunderts, und jetzt geht es darum, das 21. Jahrhundert lebenswert zu gestalten. Die europäische Idee darf nicht sterben! Sie muss, sie wird leben. Es lebe der europäische Bundesstaat! Wenn nicht jetzt, wann dann?

Christian Moos, EUD-Generalsekretär

Dieser Beitrag wurde auch von Euractiv.de veröffentlicht.